MALMOE

Über ein Alpenvereinshaus und 
das Leben unter Dachschindeln

Für die MALMOE-Literaturseite schreiben Katharina Pressl und Marie Luise Lehner über das Wohnen, manchmal hochpolitisch oder eindringlich, manchmal humorvoll oder seicht.

Folge 5: Die Bewohner*innen einer Berghütte auf 1420 Metern Seehöhe und ein Versteck direkt unter den Dachschindeln.

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Auf der Hütte am Berg

„Du musst die Wirte respektieren, die eine Gastwirtschaft auf über tausend Metern Seehöhe betreiben. Das sind schwer arbeitende Leute“, sagt der Vater der Freundin, der uns unerfahrene Wanderinnen am nächsten Tag mit Eispickeln auf den Gipfel des Großen Priel jagen möchte, obwohl der Wirt gesagt hat, „Nein, geht dort nicht hinauf. Nicht ohne Spikes an den Schuhen. Nicht ohne Helm.“ Es sei gefährlich, im Schnee zu gehen, weil man die Markierungen nicht sehe. „Mit einem Wirt darfst du dich nicht anlegen“, sagt der Vater, nachdem mich der Kellner von hinter dem Tresen angeschrien hat und die Bekannten, die wir auf der Hütte getroffen hatten, auf einmal keine Bekannten mehr waren. Mit einem Wirt legt man sich nicht an.

Von Anfang: Wir klettern bei hundert Grad mit Gepäck für vier Tage auf unseren Rücken und in eineinhalb Stunden bis zum Prielschutzhaus, einer Hütte auf 1420 Metern, am Weg hinauf zum Großen Priel. Der Vater der Freundin ist unser Bergführer. Er verbietet mir, bei den Wasserfällen Pause zu machen. Er verbietet mir zu essen. Als ich zur Hütte torkle und auf einer Bank zusammenbreche, schweigend meinen schweren Rucksack auf den Boden werfe, stellt er sich mit seinem vollen Bier neben mich und fragt, was ich denn habe. Heute Nacht werden wir hier schlafen. Wir sitzen, jetzt wo wir so schnell an unserem ersten Ziel angekommen sind, recht lange auf der Terrasse der Hütte und treffen dort die Leute, die auf den Berg gehen. Alle sind weiß. Die meisten sind Heteropaare. Sie haben teure Funktionskleidung an. Sie ziehen ihre T-Shirts aus und sonnen sich auf Almdudler-Liegestühlen. Am Nebentisch gibt es welche, mit denen wir länger sprechen. Sie sagen, sie seien traurig, nicht auf die Pride gegangen zu sein. Sie sagen, man müsse „das Linke“ auf die Berge tragen. Einer spielt in einer Indie-Boyband. Eine ist eine Freundin einer Bekannten.

Als ich neben zweien von ihnen für die Übernachtung bezahle, sind sie Alpenvereinsmitglieder, und ich frage sie, ob sie um die Nazigeschichte des Alpenvereins Bescheid wissen. Sie wissen nichts, aber der Kellner hinter dem Tresen, streng genommen ist er gar nicht der Wirt, sondern ein Angestellter, lädt die zwei Männer auf einen Schnaps ein. Er prostet ihnen zu und sagt, „Auf die Götter“. Ich habe keinen Schnaps bekommen, setze mich aber an den Tresen und frage, welche Götter das sein sollen. Der Kellner sagt aufbrausend, er respektiere meinen Gott, ich solle seinen respektieren. „Ich habe keinen Gott“, antworte ich, woraufhin der Wirt „Auf Odin und Freya“ sagt und ich perplex „So so, ich sehe schon, Alpenverein“ antworte. Während mich noch der Wirt anschreit, dass ich schön leise sein soll, während die Erwachsenen sprechen, verdünnisieren sich die beiden Männer, die „das Linke in die Berge tragen“ wollen. Als ich zum Tisch zurückkomme, möchten sie nicht mehr über die Situation reden. Der Vater der Freundin hält seine Rede über schwer arbeitende Wirte auf über tausend Metern. In der Hütte werden trotz bevorstehendem Wandertag große Mengen Zirbenschnaps getrunken. Ich bange um meinen Schlafplatz, am nächsten Tag in der Früh darum, ob ich vom eisern und böse starrenden Kellner Frühstück bekomme.
Im ersten Schneefeld drehe ich um, als fünf stramme Burschen, die auch hier kurze Hosen tragen, unter denen ihre muskulösen Waden zu sehen sind, erzählen, dass sie zurückgingen, es sei ihnen zu gefährlich und gestern sei eine Frau 50 Meter hinuntergeschlittert. Während sich die anderen weiter auf den Weg zum auf 2515 Metern Seehöhe gelegenen Gipfel machen, gehe ich zwei Stunden sehr langsam und vorsichtig zur Hütte zurück.

Ich versuche den Augenkontakt zum Kellner zu meiden, liege mit geschlossenen Augen auf einem Liegestuhl. Ich weiß, ich werde die vier Tage über kein Bergplateau gehen. Während ich sieben Stunden auf die anderen warte, die in der Abenddämmerung vom Gipfel zurückkommen, sehe ich dem ungarischen Kellner zu, der 200 Zigaretten raucht, Wasser trinkt und in die Ferne starrt. Ich sehe einen Mann ankommen, der seiner Partnerin davongelaufen ist. Sie kommt 20 Minuten später. Danach sitzen sie schweigend nebeneinander. 30 Männer oben ohne trinken Bier. Ein Mann und eine Frau teilen eine Bananenschnitte, nach wenigen Bissen sagt sie, sie könne nicht mehr. Die meisten grüßen einander und scheinen sich irgendwie zu kennen. Ich höre dem Kellner zu: Er erzählt zwei Wanderern von den Waffen seines Großvaters. Es gäbe welche mit Sprengköpfen. Es gäbe welche, mit denen man gut fokussieren könne, und es gäbe Polizeiwaffen. Auch ein Auto habe der Großvater zurückgelassen. Er verkaufe die Sachen, wenn sie Interesse hätten. Die Wanderer sagen, das Auto interessiere sie nicht, aber die Waffen klängen schon interessant. Er gibt ihnen seinen Namen und sagt, sie könnten ihn auf Facebook finden. Ich halte die Augen geschlossen und tue so, als ob ich schlafen würde. Den Namen merke ich mir, aber als ich ihn ein wenig später in mein Handy tippe, gibt es auf 1420 Metern kein Netz.

Marie Luise Lehner

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Ehe man sich versieht, behält jeder etwas für sich

Unter den Dachschindeln wachse ich flächenhaft, bis ich Moos werde, langhalsig grün, mit einem riesigen Kopf.

Dort ist mein Versteck, ich erzähle, was ich möchte, ich denke nicht, dass sie widersprechen werden, in der Dachgeschosswohnung darunter. Der Spalt zwischen den zwei Schindeln, unter denen ich es mir eingerichtet habe, dürfte im Sommer nichts als Hitze durchgelassen haben, jetzt sorgt er für genug Frischluft – Besuch kann problemlos rauchen. Mein Magen hat sich an die Flachheit gewöhnt, die Knie biegen sich in die andere Richtung, alle Haare wachsen im Muster der Dachschindeln. Es begann mit den Wanzen, die es mir als Winterquartier empfahlen, die Weberknechte widersprachen kaum. Ich legte mich hin und zerdrückte wohl einiges. Die kleinen warmen Flecken unter meinen Schulterblättern sind inzwischen ausgetrocknet. Nachfragen beschränken sich meist auf meine Tätigkeiten. Der Kopf quillt wie gesagt moosförmig an manchen Verbindungsstellen grün-pink hervor, in den Fingerspitzen spüre ich mehr als im unteren Rücken, im Zahnfleisch staut sich das Blut. Alles andere halte ich versteckt, nicht zum Vergnügen lebe ich unter Dachschindeln! Der Besuch atmet durch den Spalt. Niemanden scheint es zu stören, dass ich nun hierhergehöre. Alle kennen mich von früher, keiner schimpft und verscheucht mich. Ich rechne es ihnen nicht hoch an, dass sie für mich eine Ausnahme machen. Es ist wie bei allen Dingen, lässt man einmal locker, wollen andere auch, und ehe man sich versieht, behält jeder etwas für sich und erzählt das Falsche. Mit meinem platten Fuß stampfe ich so gut es geht. Auf wen ist hier eigentlich Verlass (auf mich sicher nicht).

Die Möglichkeiten hier sind nicht zu unterschätzen: Ein kleines Podest hat Platz, das Mikrofon. Die Namen, die ich nie getragen habe. Die Akten haben Platz. Die Narbe vom Wurf eines Metronoms an meine Schläfe, die Tattoos meiner Freundinnen, die Holzwürmer, ein paar kaum anerkannte Sprachen und irgendwelche Abschlüsse, ein kleines Foto von jedem Menschen, den ich jemals getroffen habe, und ein Haufen Hautschichten, die sich im Laufe der Ekzeme von meiner Handinnenfläche gelöst haben.

Hier erfülle ich endlich den Wunsch aller Generationen vor mir; Schweigen.

So ist es ihnen gezeigt worden, und was wäre der Anlass, dass ich es anders täte. Außerdem liegt eine Kunst darin. Unschöner werde ich dadurch nicht. In der Mitte meines Rückens, an der Stelle, wo ich nicht hinkäme, selbst wenn meine Arme nicht vom Gewicht der Schindeln nach unten gepresst werden würden, juckt es. Etwas dürfte zwischen Pullover und Haut Richtung Nacken steigen, in meinem Gehörgang lebt auch ein Tierchen. Wenn ich genau darauf achte und bis zehn zähle, hört es erstaunlicherweise auf, mit den Flügeln zu schlagen. Oder es hat sich beim letzten Regen dort Wasser gesammelt. Die Vorstellung hilft.

Für eine Umkehr ist es zu spät und ich möchte keine. Das hier ist meines, und ich glaube nicht daran, dass jemand etwas davon will. Egal wie schwer es ihnen fällt, etwas, das nie zur Auswahl stand, nicht ablehnen zu können.

Als ich eingezogen bin, hatte ich eine kleine Wunde am Knie, sie dürfte geheilt sein, zumindest saugen dort keine Würmer mehr. Manchmal würde ich gern, ein letztes Mal, meine Handinnenflächen ansehen, ob sie weiter gealtert sind oder ob ihnen die Feuchtigkeit guttut. Vieles hat sich gebessert, das Leben unter den Dachschindeln ist sehr, sehr schön. Ich kratze nicht mehr.

Katharina Pressl